Konzeption & Text. Sandra Cremer





Uaaaaah!

18. Juni 2025

– Eine Dystopie in Zeiten von KI –

Plötzlich war es dunkel. Nicht nachtdunkel, sondern dunkeldunkel. Kein bisschen Licht war mehr zu sehen. Die Menschen in ihren Zellen waren irritiert. So etwas kannten sie nicht. Nur wenige hatten noch vage in Erinnerung, dass es vor Jahrzehnten so etwas gegeben hatte. Selbst erlebt hatten sie es zwar nicht, aber die Information war in ihre Gehirne eingespeist worden. Allein diese Handvoll ahnte, was geschehen war: ein Stromausfall.

Allerdings konnten sie das nicht in Worte fassen. Denn die gab es nicht mehr. Es war eher eine Art Gefühl – was ihnen aber auch fremd war. Gefühle existierten in ihrer Welt nicht mehr. Ebenso wie grundlegende Bedürfnisse. Keiner wusste mehr, was Durst oder Hunger war. Kälte oder Hitze. Der Drang, seine Blase oder seinen Darm zu entleeren. Lust auf Sex, Liebe, Geborgenheit – alles schon lange vergessen.

Es gab nichts, um das sie sich hätten kümmern müssen. Denn alles wurde befriedigt, bevor das Verlangen überhaupt aufkam. Sie bewegten sich nicht mehr. Ihre Körper wurden so stimuliert, dass die Muskeln erhalten blieben, obwohl sie sie nicht nutzten. Außerdem lebte jeder für sich. Das Bedürfnis nach menschlichem Austausch war ebenfalls verkümmert. Sie ahnten nicht einmal, dass es so etwas überhaupt gab.

Jetzt, allein in der Dunkelheit in ihren Zellen, fühlten sie auf einmal etwas. Ihre Herzen begannen schneller zu schlagen und es wurde ihnen heiß, obwohl sie zugleich zitterten. Ihre Mägen waren flau. Keiner konnte das einordnen: Es war Angst. Dieses Unwohlsein, das sie nie zuvor erlebt hatten, verstärkte sich immer mehr, und etwas in ihrer Brust zog sich unangenehm zusammen.

Die Angst wurde zu Panik – was sie noch weniger verstehen konnten. Irgendein tief vergrabener Instinkt sagte ihnen jedoch, dass sie ihre Zellen verlassen mussten. Sie tasteten an den Wänden entlang, bis sie einen kleinen Spalt fanden. Verzweifelt stemmten sie sich gegen die Zellentüren und tatsächlich öffneten sich diese, weil der elektrische Schließmechanismus nicht mehr funktionierte. Mühsam krabbelten sie heraus. Alles erschien besser, als in diesem Gefängnis zu bleiben.

Außerhalb der Zellen war ein wenig Licht. Als sie sich umsahen, entdeckten sie andere Gestalten, die sich ebenfalls aus ihren Zellen kämpften. Was das für Wesen waren, wussten sie aber nicht. Verwirrt blickten sie an sich herab und verglichen ihre sichtbaren Körperteile mit denen der anderen Kreaturen. Allmählich schwante ihnen, dass sie von derselben Art waren.

Schließlich begannen die ersten, den Lichtstrahlen zu folgen. Die übrigen taten es ihnen nach – dabei vermieden sie es tunlichst, einander zu berühren. Sie strömten alle ins Freie, wo sie erst einmal innehielten. Über ihnen war ein großes Blau mit einem grellen, gelben Ball. Die Worte „Himmel“ und „Sonne“ kannten sie nicht.

Als sie dort standen, merkten sie, dass wieder etwas mit ihrem Körper geschah. Diesmal war es ein angenehmes Gefühl: Wärme. Zum ersten Mal, seit sie ihre Zellen verlassen hatten, wurde das Herzklopfen langsamer und das Zittern ließ nach. Stattdessen kitzelte es sie lustig im Bauch. Es war kein Unwohlsein. Es war Lebensfreude.

Nach wenigen Minuten jedoch begann ihre Haut zu brennen. Sie erinnerten sich, dass dies in dem großen Gebäude anders gewesen war. Also kehrten sie einer nach dem anderen dorthin zurück. Hier verschwand zwar das Brennen, es bahnte sich jedoch etwas Neues an: Ihre Lippen wurden immer trockener, ihr Mund pelzig und ihre Zungen fingen an, am Gaumen zu kleben. Sie spürten, dass ihnen etwas fehlte, dass sie irgendetwas dringend brauchten – doch was es war, wussten sie nicht.

Sie konnten ihre Augen nicht mehr fokussieren. Ihre Köpfe begannen zu wabern – so hätten sie es wohl beschrieben, hätten sie kommunizieren können. Unruhig beobachteten sie die anderen, ob es ihnen ebenso erging. Kein einziger blieb davon verschont. Und es wurde immer schlimmer. Zudem gesellte sich noch eine weitere Qual hinzu: Ihre Mägen verkrampften sich schmerzhaft.

Verzweifelt suchten sie nach einem Weg, sich mit den anderen zu verständigen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Keiner konnte sprechen, geschweige denn schreiben. Das Schreiben war schon lange vor dem Sprechen verschwunden. Vorsichtig begannen sie, sich gegenseitig anzustupsen, um irgendeine Reaktion hervorzurufen. Es wurde ihnen jedoch klar, dass die anderen sich in derselben misslichen Lage befanden: hilf- und wortlos.

Ihnen wurde immer elender. Irgendetwas musste geschehen. Endlich nahm einer allen Mut zusammen und machte den Anfang. Er deutete erst auf seinen Mund und dann auf seinen Bauch. Mit viel Anstrengung gelang es ihm, einen Laut herauszupressen. Es war erst ein leises, leicht gewürgtes, dann ein deutlich hörbares „Uaaah!“. Zuerst erschraken die anderen vor dem Geräusch. Dann stimmten sie alle ein: „Uaaah! Uahhhh! Uaaaaah!“ hallte es im ganzen Raum.


© 2025 Sandra Cremer. Alle Rechte vorbehalten. Foto von Niloy Biswas auf Unsplash



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